Der Sieg der Alternative für Deutschland führt vor den Landtagswahlen im nächsten Jahr zu einem Ausbruch von Verzweiflung und Vorwürfen seitens anderer Parteien und Bürgergruppen.
Auf der Nachwahlpartei der AfD in der ostdeutschen Stadt Sonneberg konnte Björn Höcke, einer der bekanntesten rechten Politiker Deutschlands, seine Freude kaum verbergen.
Die Partei hatte gerade ihre erste Landtagswahl in Deutschland gewonnen und der AfD damit den ersten Eindruck von Exekutivgewalt verschafft.
Höcke, ihr Fraktionsvorsitzender im Bundesland Thüringen, prognostizierte weitaus bedeutendere Siege für die Zukunft und forderte die Teilnehmer am Sonntag auf, sich darauf vorzubereiten, bei den Landtagswahlen im nächsten Jahr ein „politisches Erdbeben“ auszulösen.
Sonneberg ist mit rund 57.000 Einwohnern einer der kleinsten Kreise Deutschlands, doch die Ergebnisse der Stichwahl am Sonntag geben Anlass zu großer Besorgnis darüber, dass die Maßnahmen zur Eindämmung des rechtsextremen Populismus in Deutschland scheitern.
Der AfD-Rechtsanwalt Robert Sesselmann besiegte den Kandidaten der Christlich Demokratischen Union (CDU), Jürgen Köpper, mit 53 Prozent der Stimmen, während Köpper 47 Prozent der Stimmen erhielt, obwohl alle anderen Parteien seinen Gegner unterstützten. Die Wahlbeteiligung lag bei 60 Prozent.
Sesselmanns Kampagne konzentrierte sich eher auf die nationale als auf die lokale Politik.
Er forderte ein Ende der Sanktionen gegen Moskau und Verhandlungen zur Beendigung des russischen Krieges in der Ukraine.
Sesselmann wetterte auch gegen Inflation, zunehmende irreguläre Migration und grüne Energiepolitik wie den Plan der Regierung, Gaskessel in Haushalten zugunsten von Wärmepumpen abzuschaffen.
Eine solche Politik liegt weit außerhalb der Befugnisse eines Landverwalters, greift aber auf Themen zurück, die für einen Aufschwung der Unterstützung der AfD gesorgt haben.
Meinungsumfragen zeigen, dass sich ihre Unterstützung im vergangenen Jahr verdoppelt hat, da sie versucht hat, sich als einziger echter Gegner des politischen Status quo zu positionieren.
In der Stadt Schwerin, der Hauptstadt des nordöstlichen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern, und im Landkreis Oder-Spree an der polnischen Grenze gelang es ihr in den letzten Wochen nur knapp, das Bürgermeisteramt zu gewinnen.
In den östlichen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg, in denen 2024 Wahlen stattfinden, liegt die AfD klar und konstant an der Spitze.
Die Geburt der AfD
Die AfD wurde 2013 gegründet, um sich gegen die Unterstützung der Eurozone und Deutschlands für Rettungsaktionen für verschuldete Euro-Länder zu stellen. Als 2015 Wellen von Asylbewerbern in die Europäische Union kamen, löste sie eine ausländerfeindliche Reaktion gegen die Politik der offenen Tür der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel aus, und bei den Wahlen 2017 gewann die Partei genügend Stimmen, um ins Bundesparlament einzuziehen.
Obwohl ihre Basis in den Bundesländern der ehemaligen DDR liegt, wird die Strahlkraft der AfD zunehmend zu einem bundesweiten Phänomen.
Einer Kantar-Umfrage zufolge liegt die AfD am Samstag bei 20 Prozent und liegt nur hinter den Christdemokraten mit 27 Prozent.
Die Regierungskoalition aus Sozialdemokraten (19 Prozent), Grünen (15 Prozent) und Freien Demokraten (7 Prozent) würde bei einer erneuten Wahl deutlich an einer Mehrheit scheitern.
Axel Salheiser, Forschungsdirektor am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, sagte gegenüber Al Jazeera, dass das Ergebnis der Stichwahl in Sonneberg „eine höchst symbolische politische Wirkung“ habe.
„Umso mehr, als die AfD dadurch bundesweit die gewünschte Aufmerksamkeit erhält und die Wahl im kleinen Sonneberg propagandistisch zum ‚Startschuss‘ eines Aufmarsches auf kommunale Ämter und Institutionen in ganz Thüringen und Deutschland aufbläht“, sagte er.
„Die demokratischen Parteien müssen die notwendigen Konsequenzen ziehen und dem Trend, dass sich die Menschen – insbesondere im ländlichen Raum – von der demokratischen Politik nicht gehört und angesprochen fühlen, wirksamer entgegenwirken“, fügte Salheiser hinzu.
„Dammbruch“
Das Ergebnis in Sonneberg hat bei anderen Parteien und zivilgesellschaftlichen Gruppen zu einem Ausbruch von Verzweiflung und Vorwürfen geführt.
„Das ist ein Dammbruch, den die demokratischen politischen Kräfte in diesem Land einfach nicht akzeptieren können“, sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Vielen Persönlichkeiten der AfD wird Antisemitismus vorgeworfen, darunter auch Höcke, der das Berliner Holocaust-Mahnmal einst als „Denkmal der Schande“ bezeichnete.
Ricarda Lang, Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen, bezeichnete die AfD als „Bedrohung für die Demokratie“ und plädierte für mehr Investitionen in ländliche Gebiete, damit diese wirtschaftlich nicht ausgeschlossen werden.
„Die AfD wird immer dann stark, wenn in der Mitte der Gesellschaft rechte Themen hochgeheizt und Begriffe und Positionen übernommen werden“, schrieb Innenministerin Nancy Faeser von der SPD auf Twitter.
Sie warnte davor, dass das Wachstum der AfD Deutschland wirtschaftlich schaden könnte, indem es ausländisches Kapital und ausländische Arbeitskräfte abschrecke, die zur Behebung des weit verbreiteten Arbeitskräftemangels benötigt würden.
CDU-Chef Friedrich Merz sagte, es sei „eine Herausforderung für alle Parteien“, gegen die AfD vorzugehen, kritisierte die Regierung jedoch dafür, dass sie mit ihrer Umwelt-, Energie- und Migrationspolitik Wähler verärgere. Dabei hob er insbesondere die Grünen hervor.
„[Sie ist] dafür verantwortlich, dass es zu dieser Polarisierung in der Energie- und Umweltpolitik kam“, sagte Merz.
Unter Merz, der Anfang letzten Jahres Parteivorsitzender wurde, ist die CDU vom zentristischen Kurs ihrer langjährigen Vorsitzenden Merkel abgewichen.
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken sagte, Merz‘ Rhetorik zu Kriminalität und Migration habe der AfD zugute gekommen, während sie zugab, dass ihre eigene Partei mit ihrer schlechten Kommunikation zum Thema Wärmepumpen einige Wähler verärgert habe.
„Mit der Wahl des rechten Politikers, der wie seine Partei offensichtlich keine Lösungen für die Herausforderungen der Zeit hat, sondern nur Hass und Hetze, wird die Demokratie weiterhin geschädigt“, sagte Christian Schaft, Vorsitzender des Landesverbands Thüringen der sozialistischen Linkspartei, die die Landesregierung anführt.
Außerdem wirft er der CDU eine Normalisierung der Positionen der AfD vor.
„Damit gehen ein Gefühl des Abgehängtseins, Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen, weil demokratische Entscheidungen nicht transparent genug kommuniziert oder nachvollzogen werden, und ein tiefsitzendes Verlusterlebnis nach der Wiedervereinigung einher“, fügte er hinzu.
Risse in der Firewall
Das Ergebnis in Sonneberg hat weitere Fragen zur Stärke der sogenannten Firewall zwischen der AfD und den deutschen Mainstream-Parteien aufgeworfen, die eine Zusammenarbeit mit ihr verweigern.
Im Osten, wo sich AfD und CDU in vielen Fragen auf einer Linie befinden, sind bereits Risse entstanden.
Im östlichen Bundesland Sachsen stimmen regelmäßig lokale CDU-Politiker gemeinsam mit ihren AfD-Kollegen ab.
Michael Brychcy, CDU-Bürgermeister und Mitglied im Landesvorstand der Partei, plädierte diesen Monat in Thüringen öffentlich für eine Zusammenarbeit mit der AfD und sagte: „Nicht jeder in der Partei ist ein Faschist.“
„Ich glaube nicht mehr an diese Firewall. … Auch wenn die Bundes-CDU sagt, dass das nicht passiert, kann sie nichts tun. Ich denke, das werden wir früher als später sehen“, sagte Maximilian Kreter, Forscher am Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung.
Am Montag gratulierte der Jugendverband der CDU in Thüringen der AfD zum Sieg.
„Jetzt ist es an der Zeit, Ideologie und Wahlkampfrhetorik beiseite zu legen und in die sachliche Politik für unseren Bezirk einzusteigen“, hieß es auf Twitter. Der Beitrag wurde kurze Zeit später gelöscht.
Quelle: AL JAZEERA