Rotlichtviertel, Partyzone, Touri-Hostpot: Das eine St. Pauli ist weit über Hamburg hinaus weltberühmt. Das andere ist Heimat für die Menschen, die da leben. ZDFin zeigt sie.
Vier Wochen St. Pauli, vier Wochen Vergnügen – könnte man denken. Ja, in der Tat war es ein Vergnügen, wenn man lange Tage und lange Nächte mit viel Arbeit so sehen kann. Unsere “Multifrau” aus dem ZDF-Landesstudio Hamburg, Karen Hinkelmann, und ich hatten dieses Vergnügen, vier Wochen auf St. Pauli unterwegs zu sein. Dem legendären Kiez in der Hansestadt.
Dieses Viertel rund um die Reeperbahn kennt ja jede und jeder in der Republik. Aber uns ging es darum, abseits der Klischees und Vorurteile über das Rotlicht – und Partyviertel, jene Menschen und Typen zu treffen, die hier tatsächlich leben und arbeiten.
Wer nicht “Du” sagt, wird nicht ernst genommen
Dazu haben wir uns in eine gerade leer stehende Wohnung am Hans-Albers-Platz eingemietet und hier vorübergehend unser kleines “ZDF-Studio St. Pauli” eingerichtet. Meine Kollegin Karen eben als Kamerafrau und Cutterin und ich als Reporter. Vier Wochen, in denen unsere Tür meist offen stand und viele der Menschen, die wir bei unseren Dreharbeiten kennenlernten, uns irgendwann besuchen kamen. Ganz nah dran waren wir also und eben mitten drin mit unserem “ZDFin St. Pauli”, obwohl es ja eigentlich “…auf St. Pauli” heißen müsste.
Das Erste, was man sich auf St. Pauli ganz schnell abgewöhnen muss, ist das SIE. Wer nicht DU sagt, wird nicht ernst genommen. Wie ich am Anfang. Karen hatte mich schon vorgewarnt. Ich brauchte zwei Tage, dann fielen alle Hemmungen. Das hat auf St. Pauli nichts mit Anbiederung zu tun, viel mehr mit gleicher Augenhöhe, auf der die Menschen hier einfach unterwegs sein wollen, egal, woher jemand kommt oder was er ist.
Pandemie war schwere Zeit für Clubbesitzer
Ein paar unserer Begegnungen, auch wenn wir Dutzende Menschen kenngelernt haben: Da gibt es zum einen die Kneipen- und Clubbetreiber*innen. Dazu gehört Micky Hensel zum Beispiel, die mit der “Nachtschicht” eine wunderbare, etwas nostalgisch anmutende Kneipe betreibt, nur einen Katzensprung entfernt von der Herbertstraße. Micky führt ihren Laden seit über 15 Jahren mit vollem Herzen, lebt – vor allem nach der besonders für die Gastronomie schweren Corona Zeit – von ihren Stammkunden und -kundinnen.
Hier auf St. Pauli ticken die Uhren anders. Und hier werden auch viele Sachen anders gehandhabt als in anderen Stadtteilen (Hamburgs). St. Pauli ist halt mein geliebtes Ghetto, mit allen Vor- und Nachteilen…
Micky Hensel, Kneipenbesitzerin
Gleich nebenan musste gerade die 99-Cent-Bar von Odin dicht machen. Er ist wütend und enttäuscht, was aus den Unterstützungsgeldern in der Corona-Zeit geworden ist. Eine Rückzahlungsforderung der zuständigen Behörde. Von der Politik fühlt sich Odin im Stich gelassen. Wie soll er, wie kann er Geld zurückzahlen, das in Spuckschutz, Luftfilteranlagen und kontaktlose WC-Geräte investiert wurde und längst ausgegeben ist.
Einmal St. Pauli – immer St. Pauli
Allen Wirten und Wirtinnen hier auf dem Kiez ist eines gemein. Sie sind St. Paulianer von Geburt an – oder sie sind eben irgendwann hierher verschlagen worden und sie können nicht loslassen. Einmal St. Pauli – immer St. Pauli, so scheint es. So geht es auch Alban, einem Mitfünfziger, der seit 30 Jahren Musikclubs auf dem Kiez betreibt. Dazu zählt das “Hausverbot” und der “Bahnhof Pauli”, der beim Reeperbahnfestival vor zwei Wochen zum Auftrittsort für deutsche Hoffnungs-Bands auf dem internationalen Musikmarkt wurde.
Überhaupt ist das alljährliche musikalische Mega-Event für junge Musik ein großartiger Ausweis der Kreativität Hamburgs und St. Paulis. Nirgendwo in Deutschland gibt es so viele kleine Clubs und Läden, in denen man von Indie über Pop bis Rock und Rap fast jeden Abend irgendwo reinfallen und Live-Musik genießen kann.
Aber auch Menschen wie Andreas Muhme haben wir kennengelernt. Einen Fotografen, der mit seinem Buch “Faces von St. Pauli” ein Zeitdokument über die Vielfalt und Diversität im Viertel geschaffen hat. Hunderte Menschen hat Andreas schon fotografiert. Über ihn lernen wir auch Didine kennen, der auf St. Pauli ein queeres Leben führt, was hier nichts Besonderes ist.
St. Pauli ist unglaublich offen für Menschen, die den St. Pauli Code schätzen (…) und der heißt: Lass den anderen mal so sein, wie er ist, und dann funktioniert das schon ganz gut.
Didine van der Platenvlotbrug
Viele Bedürftige – und viele Helfer
Schnell war uns klar: Auf St. Pauli leben viele Macherinnen und Macher. Es wird auch viel geschnackt, vor allem, wenn Alkohol fließt. Und das tut er natürlich reichlich. Bei manchen auch schon tagsüber. Viele der obdachlosen Menschen auf der Straße etwa hängen an der Flasche. Auch Drogensüchtige gehören zum täglichen Straßenbild. Aber es gibt eben gerade hier auch viele Menschen, die sich um Bedürftige kümmern.
Meike Oberschelp leitet als Geschäftsführerin das CaFée mit Herz, eine Anlaufstelle für obdachlose Menschen. Frühstück und eine warme Mahlzeit werden hier täglich ausgegeben und darüber hinaus Kleider und medizinische Hilfe angeboten, oder Unterstützung bei Behördengängen. In einem Wohnprojekt wird einigen auch wieder ein Zuhause gegeben, um ihnen einen Weg zurück in ein geordnetes Leben zu ermöglichen.
Und es gibt Menschen, wie etwa Julia Staron, die häufiger mal zwischen alle Fronten geraten, wenn es darum geht, die Interessen der St. Paulianer und St. Paulianerinnen zu artikulieren. Da tun sich leicht mal fünf Meinungen und Perspektiven auf, statt einer gemeinsamen. Nicht einfach, dann die eine Meinung für alle zu formulieren.
Kritik an Brachfläche “Paloma-Viertel”
Und dennoch: Beim Thema Paloma-Viertel herrscht zur Zeit zum Beispiel große Einigkeit, dass die Stadt dringend etwas tun muss, damit die seit Jahren bestehende Brachfläche mitten auf St. Pauli endlich bebaut wird und wie einst versprochen, Wohnraum geschaffen wird für Menschen, die beim Abriss der sogenannten Esso-Häuser weichen mussten.
Ein Ärgernis mit großem Sprengstoff, weil der bayrische Investor seit zehn Jahren nichts von den einstigen Versprechungen eingelöst hat. “Platz der leeren Versprechungen” haben die Anwohner und Anwohnerinnen die Brachfläche dann auch jüngst folgerichtig getauft.
Menschen tragen Herz auf dem richtigen Fleck
Es gibt so viele Geschichten zu erzählen über St. Pauli, über Sozialarbeiter, Leute, die mit Jugendlichen arbeiten oder auch die Polizistinnen und Polizisten der Davidwache, die um ihren Job auch nicht immer zu beneiden sind.
Karen und ich haben einen tieferen Einblick in ein Viertel bekommen, das sich an normalen Wochentagen wie ein Dorf anfühlt, in dem man Nachbarn trifft und sich freundlich grüßt – oder eben einen kleinen Schnack hält.
St. Pauli, so unser Fazit nach vier Wochen, ist ein Viertel, das man lieben muss. Weil die meisten Menschen hier das Herz einfach auf dem richtigen Fleck tragen. Und weil uns einfach ganz klar geworden ist, dass St. Pauli so viel mehr ist, als das Rotlicht- und Partyviertel, dessen Kulisse wohl leider weiterhin viele Klischees bedienen wird.
Quelle : zdf