Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle in Deutschland deutlich gestiegen. Im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen dabei oft Muslime. Wie groß ist das Problem?
Judenfeindliche Äußerungen auf Deutschlands Straßen: Auf pro-palästinensischen Demonstrationen kommt es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen. Auch in NRW wurden Israel-Fahnen gestohlen und bei Kundgebungen verbotene Symbole gezeigt.
In NRW hat es nach Angaben der Behörden seit dem Terrorangriff der Hamas bisher 204 antisemitische Straftaten gegeben. Das meiste davon seien Sachbeschädigungen, Volksverhetzung und Schmierereien an Häusern gewesen. Schwere Körperverletzungen habe es bislang noch nicht gegeben.
Sichtbar wird das Problem auch an Schulen: Ein Lehrer aus dem Münsterland berichtete am Mittwoch dem WDR, fast täglich erlebe er judenfeindliche Vorkommnisse im Klassenzimmer und auf dem Schulhof. “Ich glaube, dass wieder insgesamt mehr Hass auf Juden zur geduldeten Normalität gehört”, sagte der Mann, der seit über 20 Jahren an einer weiterführenden Schule unterrichtet. Es seien krasse antijüdische Äußerungen, die er vor allem von muslimischen Schülern hören würde.
“Dramatische Rückmeldungen” aus Schulen
Der Antisemitismusforscher Uffa Jensen von der Technischen Universität Berlin wundert sich nicht über die Schilderungen des Lehrers aus dem Münsterland. “Seit Jahren sind der Nahost-Konflikt und Antisemitismus ein generelles Problem an Schulen”, sagte Professor Jensen vom Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) am Donnerstag dem WDR. “Die Lehrer haben Schwierigkeiten damit, weil sie sich überfordert fühlen und darüber zu wenig wissen.”
Es gebe “dramatische Rückmeldungen” aus Schulen mit muslimischen Schülern. Immer wenn der Nahost-Konflikt eskaliere, sei das auch in Deutschland spürbar. “Wir befinden uns derzeit wieder in einer Hochphase”, sagte Jensen. “Juden und Jüdinnen nehmen das massiv als Bedrohung wahr.
Zugleich machten sich Schüler mit einem palästinensischen Hintergrund berechtigte Sorgen um die Menschen im Gaza-Streifen. “Aus dieser Situation kann dann ein antisemitischer Spruch kommen – er ist aber trotzdem falsch.”
Mehr israelbezogener Antisemitismus
Zur Frage, wie stark der Antisemitismus unter den mehr als fünf Millionen Muslimen in Deutschland verbreitet ist, sagte Historiker Jensen: “Das ist noch nicht detailliert erforscht.” Aufgrund verschiedener Studien könne man aber sagen: “Israelbezogener Antisemitismus ist unter Menschen mit Migrationshintergrund und Muslimen weiter verbreitet als unter Menschen ohne Migrationshintergrund.”
Das bedeute aber keineswegs, dass alle Muslime Antisemiten seien: “Ein Großteil der Muslime und der migrantischen Community stimmt bei Umfragen antisemitischen Aussagen nicht zu – sonst wären die anti-israelischen Demonstrationen viel größer.” Außerdem sei Antisemitismus in der gesamten deutschen Gesellschaft weit verbreitet und nicht nur ein Problem von Muslimen.
Professor Jensen stützt sich bei seinen Aussagen auf eine ZfA-Untersuchung vom April. Ein Ergebnis dieser Studie laute: “Je länger Menschen mit muslimischem Migrationshintergrund in Deutschland sind, desto mehr nehmen bei ihnen Antisemitismus und Israelfeindlichkeit ab.” Diese Tendenz gelte allerdings nicht für jene, die mit islamistischen Gruppen wie der Hamas sympathisierten.
Mögliche Verschärfung
Verschärfen könnte sich die derzeitige Situation in Deutschland durch Aussagen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan – so die Einschätzung von Antisemitismusforscher Jensen. Erdoğan hatte am Mittwoch vor Abgeordneten seiner AK-Partei gesagt: “Die Hamas ist keine terroristische Organisation. Die Hamas ist eine Befreiungsgruppe, die kämpft, um ihr Land zu schützen.”
Die türkische Community sei lange Zeit für Antisemitismus nicht empfänglich gewesen, sagte Jensen dem WDR. “Und es ist immer noch so, dass die türkische Community weniger anfällig ist für Israelfeindlichkeit als die arabisch-stämmigen Migranten.” Doch durch Erdoğans Äußerungen zur Hamas könne sich das ändern. “Zumal einige Verbände der türkischen Community enge Verbindungen in die offizielle Türkei haben.”
Quelle : wdr.de