Körper, die sich winden und aufbäumen. Nüstern, die sich blähen. Pferdeaugen, in denen Wut und Panik funkeln. Die Schlüsselszene zu Beginn von „Wie wilde Tiere“ setzt in quälender Zeitlupe den Ton. Gewalt und Angst, affektkontrollierte Zivilisation versus triebhafte Natur. All das klingt in der Szene der „Rapa das Bestas“ an.
So nennt sich ein jahrhundertalter, testosteronhaltiger Brauch im spanischen Galicien. Bei diesem Kräftemessen zwischen Mensch und Tier treiben Männer aus den Dörfern, die sich Aloitadores nenne, verwilderte Pferde aus den Bergen ins Tal, um sie zu überwältigen, zu scheren und zu markieren. Ein Akt der kurzzeitigen Zähmung, in dem die schwer atmenden Kreaturen zu einer Schicksalsgemeinschaft verschmelzen, in der ein Pferd nicht ohne das andere existiert.
Kräftemessen. Das ist auch das, was Antoine (Denis Menochét) und Olga (Marina Foïs) in Rodrigos Sorogoyens Drama veranstalten, das seit seiner Uraufführung beim Filmfestival von Cannes 2022 mit diversen Goyas und Césars ausgezeichnet wurde. Fünf Jahre ist es her, dass das einander zärtlich zugetane Ehepaar aus Frankreich eingewandert ist, um sich in einem der halb verfallenen Bergdörfer Galiciens, die von der Landflucht der jungen und gut ausgebildeten Menschen gezeichnet sind, ein neues Leben aufzubauen.
Früher arbeiteten die weitgereisten Großstädter als Lehrer. Jetzt sind sie Biobauern und ziehen auf ihrer sorgsam von Hand bestellten Scholle Tomaten und Gemüse. Und sei das nicht schon vorbildlich genug, versuchen die Idealisten nebenher, alte Natursteingemäuer vor dem Einsturz zu retten. Sie sind die Guten. Sie wollen beleben, erneuern, bewahren.
Den Dörflern und vor allem den versoffenen Anta-Brüdern, die auf ihrem Hof gleich nebenan in Gummistiefeln durch die Kuhfladen waten, sind „die Franzosen“ dennoch ein Dorn im Auge. Weil sie anders wirtschaften, anders denken und kein Land an eine Windpark-Investorengesellschaft verkaufen wollen, die den Alteingesessenen als die ersehnte rettende Wohlstandsspritze in ihrer Einöde der Abgehängten erscheint.
Was der Regisseur da als gleichermaßen distanziert in Bilder gesetzten wie psychologisch dichten Kulturclash inszeniert, ist einer der Grundkonflikte dieser Zeit. Stadt gegen Land, Bildungsbürger gegen Deklassierte, Zuzügler gegen Einheimische. Samt dem Weltverbesserungsfuror der Öko-Aussteiger, der genauso viel von den Defiziten des urbanen Lebens erzählt, wie der bornierte Fremdenhass der Dorfbewohner von denen der Provinz. Dass es nun ausgerechnet erneuerbare Energien sind, die um das Bauernland konkurrieren und die Spirale aus Neid und Gewalt zum Eskalieren bringen, erinnert an „Alcàrras“, Carla Simóns Berlinale-Siegerfilm von 2022.
Verglichen mit Simóns warmherziger Pfirsichbauern-Familie, die ihre angestammte Plantage an einen Solar-Park verlieren soll, sind Antoine und Olga nachgerade spröde Charaktere. Aber sehr darauf bedacht, sich sozial ins Dorf einzufügen.
Gut, Olga liest in der Sommerhitze an der Badestelle Bücher, was sonst niemand macht. Aber Antoine, ein Baum von Kerl mit Dreck unter den Fingernägeln, könnte in der Dorfkneipe – mal abgesehen von den Sprachproblemen – glatt als Galicier durchgehen. Nur dass Xan Anta (Luis Zahera) und dessen Bruder Loren (Diego Anido) ihn permanent piesacken und schließlich zu blanken Nachbarschaftsterror übergeben.
Wie im Western fungieren das schroffe Bergland, der herbstliche Laubwald und die kalten Farben des Winters als Reflektion der zunehmend angespannten, inneren Befindlichkeit des Ehepaars, dessen zentrale Perspektive von Antoine zu Olga wechselt. Nichts ist schlicht gebaut, niemand nur gut oder nur schlecht in diesem schwerblütig erzählten Szenario.
Wer darf diesen umkämpfen Flecken Heimat nennen? Die seit Generationen darauf schuftet und endlich eine Chance auf sozialen Aufstieg wittern? Oder die daherkommen, um hier Träume von Freiheit und dem Leben in Eintracht mit der Natur zu verwirklichen? Und was ist werthaltiger: die Rekultivierung von Bergregionen oder Land für erneuerbare Energie?
Nebenbei ist „Wie wilde Tiere“, dessen Eingangsszene später eine bestürzende Wiederholung unter tödlichen Vorzeichen erfährt, auch ein Drama über die Konfliktstrategien von Frauen und Männern. „Wir sind nicht gekommen, um Krieg zu führen“, sagt Olga zu Antoine, der verbissen mit der Videokamera Beweise für den Terror der Nachbarn sammelt. Die schrecken nicht mal davor zurück, die Zisterne der Gemüsebauern mit Autobatterien zu verseuchen.
Sie will einlenken, er nicht. Wobei die hier kurzzeitig entstehende Mär von der „friedlichen Frau“ sich im letzten Drittel gründlich wendet, als alle unsichtbaren Kontrollfäden, die die Landschaft durchziehen, in Marina Foïs‘ trotziger Stoik zusammenlaufen.
Dass sich Regisseur Sorogoyen zu der Geschichte von wahren Begebenheiten in einem spanischen Dorf inspirieren ließ, ist ein weiterer beunruhigender Grund, warum „Wie wilde Tiere“ zu den wichtigen Filmen dieses europäischen Kinojahrs gehört.
Quelle : Tagesspigel