Die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen wurden in der Ukraine bisher weitgehend vernachlässigt. Im Hinblick auf die steigende Zahl der Kriegsverletzungen, sollten diese beim Wiederaufbau des Landes berücksichtigt werden, so Aktivisten gegenüber Euractiv.
„Wir befürchten, dass dieses Problem nicht angegangen wird. Es ist klar, dass keine neuen Mittel für den Wiederaufbau und die Renovierung von Heimen bereitgestellt werden“, sagte Giulia Traversi, Referentin für humanitäre Angelegenheiten beim Europäischen Behindertenforum (EDF).
Wohnheime – in denen Menschen mit Behinderungen langfristig untergebracht werden – seien in der Ukraine „gängige Praxis“ und würden sich anfühlen wie Krankenhäuser, die man fast nie verlässt, so Gunta Anca, EDF-Vizepräsidentin und Vorsitzende des lettischen Dachverbands der Behindertenorganisationen SUSTENTO.
„Wir sind der festen Überzeugung, dass sie schädlich sind“, fügte Traversi hinzu.
„Die Beschleunigung des Übergangs von stationären Einrichtungen zur familiären oder gemeindenahen Betreuung ist eine unserer Hauptforderungen, die ich im Moment nicht in Erfüllung gehen sehe.“
Umzug unmöglich
Viele Heime in der Ukraine sind nicht nur dysfunktional und schädlich für die Menschen, die sie beherbergen, sondern weisen auch in anderer Hinsicht Mängel auf, da sie oft überfüllt und personell unterbesetzt sind. Außerdem verfügen sie nicht über ausreichend große und stabile Schutzräume für ihre Bewohner.
Laut einer von der EU, der ukrainischen Regierung, der Weltbank und den Vereinten Nationen durchgeführten Studie sind rund 73 Prozent der Luftschutzbunker in der Ukraine – einschließlich derjenigen in Heimen – für Menschen mit Mobilitätsproblemen nicht zugänglich.
Selbst die von der Christlichen Blindenmission International (CBM) entwickelten behindertengerechten Unterkünfte erfüllten laut einer anderen Studie von Protection Cluster Ukraine nicht einmal zehn der 16 von zivilgesellschaftlichen Organisationen festgelegten Mindestanforderungen.
„Eine Person mit einer Behinderung kann in solchen Unterkünften nicht leben, und wenn ihr Haus zerstört wird, kann sie nicht umziehen“, heißt es in der Studie. „Wenn Evakuierungsorganisationen mit dem Problem der Unterbringung konfrontiert werden, ist es unmöglich, eine Lösung zu finden.“
Unabhängige Lebensweise
Das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben – oder das Recht der Menschen, über ihre Lebensbedingungen selbst zu entscheiden und nicht von ihrer Gemeinschaft getrennt zu werden – wird den EU-Bürgern durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UNCRPD) garantiert.
Gemäß Artikel 19 (b) des Gesetzes ist es den EU-Ländern nicht gestattet, stationäre und damit isolierende Einrichtungen zu finanzieren. Vielmehr müssen „alle Unterstützungsdienste so gestaltet sein, dass sie das Leben in der Gemeinschaft unterstützen und Isolation und Absonderung von anderen verhindern. Sie müssen auch in der Realität für diesen Zweck geeignet sein.“
In der UNCRPD wird darauf hingewiesen, dass Ressourcen, die in stationäre Einrichtungen investiert werden, zu „Verlassenheit, Abhängigkeit von der Familie, Institutionalisierung, Isolierung und Segregation“ von Menschen mit Behinderungen führen.
In der Ukraine gibt es bereits gesetzliche Regelungen für den Übergang zur gemeindenahen Betreuung, so Anca, doch die Gesetze funktionieren nicht gut und sollten besser kontrolliert werden.
Der Vorschlag für die Ukraine-Fazilität – ein Finanzierungsplan für den Wiederaufbau des Landes, den das Europäische Parlament am 5. Oktober genehmigte – erwähnt nicht ausdrücklich Wohneinrichtungen.
Das Parlament stimmte am 17. Oktober für die Änderung und Billigung des Vorschlags für die Ukraine-Fazilität und versprach 50 Milliarden Euro zur Unterstützung des ukrainischen Wiederaufbaus von 2024 bis 2027.
Die Mittel aus der Ukraine-Fazilität werden für den kurzfristigen Bedarf des Staates und die Stabilisierung sowie für den mittelfristigen Wiederaufbau und die Modernisierung der Ukraine verwendet“, so heißt es von Seiten der Europäischen Kommission.
„Die Umsetzung der Fazilität sollte im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen stehen und die Zugänglichkeit der Investitionen und der technischen Hilfe gewährleisten“, so die Kommission.
Barrierefreiheit auf der Kippe
Als Reaktion auf die Vorschläge, die zwischen der Europäischen Kommission und dem Parlament abgestimmt wurden, veröffentlichte die EDF einen Artikel, in dem sie ihre Forderung nach einem absoluten Verbot der Verwendung von EU-Mitteln für „segregierende Wohneinrichtungen“ bekräftigte.
Ein Ziel, das Anca mit der Ukraine-Fazilität verwirklicht sehen möchte, ist es, keine neuen Hindernisse für Menschen mit Behinderungen zu schaffen.
Schon jetzt fühle sich das Leben für Menschen mit Behinderungen eher so an, als ob sie durch ein Fenster zuschauten, anstatt es zu leben, erklärte Anca. Viele Gebäude in der Ukraine seien beispielsweise nach wie vor für Menschen mit Behinderungen unzugänglich, so Anca.
„Manchmal ist es einfacher, das Thema Barrierefreiheit zu ignorieren, weil es weitere Anstrengungen erfordert, die Instrumente und Methoden der Umsetzung zu verstehen“, sagte Denys Savchenko, Projektmanager bei der ukrainischen Behindertenrechtsorganisation The League of the Strong.
„Aber genau deshalb gibt es unsere Organisation und unsere Kollegen.“
Da die Ukraine letztendlich verpflichtet sein werde, das gesamte EU-Recht zu befolgen, sollte sie sich auch bei der Verwendung der EU-Mittel aus der Ukraine-Fazilität an das EU-Recht halten, so Traversi.
Faktische, nicht deklarative Inklusivität
Laut einer Schadens- und Bedarfseinschätzung der Weltbankgruppe erhielten allein im Jahr 2022 130.000 Menschen in der Ukraine den Status einer Behinderung. Ein Viertel der Binnenvertriebenen – oder rund 1,3 Millionen Menschen – gaben an, ein oder mehrere Haushaltsmitglieder mit einer Behinderung zu haben, so die Bewertung weiter.
Der gleichen Studie zufolge nimmt die Zahl der Menschen mit Behinderungen zu und wird mit dem Fortschreiten des Krieges weiter steigen.
„Die meisten Barrieren gab es schon vor Beginn des Krieges, aber der Krieg hat sie noch sichtbarer gemacht“, sagte Savchenko. „Und wir müssen den Bedürfnissen der Menschen im Wiederaufbauprozess Vorrang einräumen.“
Daten über Menschen mit Behinderungen, die das Land verlassen haben, sind nicht verfügbar. Einem anderen UN-Bericht zufolge haben jedoch mehr als 20 Prozent der Familien mindestens eine Person mit besonderen Bedürfnissen, und 13 Prozent der Familien, die aus der Ukraine fliehen, haben mindestens einen Angehörigen mit einer Behinderung.
Pläne zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen in der Ukraine sind in Arbeit, doch es ist fraglich, wie wirksam sie sein werden.
„Inklusion sollte nicht deklarativ, sondern faktisch sein“, sagte Savchenko. „Wir haben eine klare nationale Strategie, aber sie sollte auch durch Pläne für die lokalen Behörden unterstützt werden. Denn derzeit wissen die lokalen Behörden, die diese Strategie umzusetzen haben, nicht, wie sie vorgehen sollen“.
„Im Mittelpunkt des Wiederaufbaus sollten die Menschen und ihre Bedürfnisse stehen“, forderte Savchenko. „Der Schwerpunkt dieser Veränderungen sollte darauf liegen, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.“
„Eine widerstandsfähige, zugängliche und integrative Gesellschaft käme allen zugute“, sagte Traversi. „Das ist wirklich etwas, das wir in Betracht ziehen sollten, und wir sollten sicherstellen, dass die Entscheidung gemäß unserem [EDF-]Motto ’nichts über uns ohne uns‘ getroffen wird.“
Quelle : EURACTIV