Ein ehemaliger ostdeutscher Geheimpolizist ist zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er vor 50 Jahren einen Polen ermordet hatte, der versuchte, nach West-Berlin zu fliehen.
Der Mann, der in den Gerichtsakten als Martin Manfred N. bezeichnet wird, ist heute 80 Jahre alt. Er schoss 1974 am Bahnhof Friedrichstraße Czeslaw Kukuczka in den Rücken, nachdem dieser die polnische Botschaft betreten hatte, angeblich eine Bombe bei sich trug und verlangte, in das demokratische Westdeutschland ausreisen zu dürfen.
Einzelheiten des Mordes blieben jahrzehntelang unbekannt, nachdem die Stasi-Geheimpolizei vor der Wiedervereinigung der DDR mit dem Westen im Jahr 1990 die den Fall betreffenden Akten vernichtet hatte.
Nach hartnäckigen Ermittlungen von Historikern und polnischen Behörden erhob die Berliner Staatsanwaltschaft 2023 Anklage gegen ihn.
Am 29. März 1974 betrat der 38-jährige Feuerwehrmann Kukuczka mit einer Aktentasche die polnische Botschaft im Ost-Berliner Boulevard Unter den Linden.
Der Vater dreier Kinder gab fälschlicherweise an, eine Bombe bei sich zu tragen und verlangte die Ausreise nach West-Berlin.
Stasi-Offiziere gaben ihm ein Ausreisevisum sowie etwas westdeutsches Geld und eskortierten ihn zum Bahnhof Friedrichstraße, der noch immer von Zügen aus dem Westen der Stadt angefahren wurde.
Kukuczka passierte im Bahnhof mehrere Grenzkontrollen. Doch bevor er den westlichen Teil des Bahnhofs erreichen konnte, näherte sich ihm von hinten ein Mann und schoss ihm in den Rücken.
Zu den Zeugen des Mordes gehörte auch eine Gruppe von Schülern aus Hessen. Eine von ihnen sagte im Prozess aus, sie habe gesehen, wie ein Mann auf Kukuczka geschossen habe, bevor „Menschen in Uniform“ den Durchgang abriegelten.
Historiker deckten Einzelheiten des Falles auf, indem sie in den Stasi-Archiven entsprechende Akten aufspürten. Dokumente, die Naumann mit dem Mord in Verbindung brachten, wurden geschreddert und mithilfe einer eigens dafür gebauten Maschine wiederhergestellt.
Kukuczkas Familie wurde nie offiziell über sein Schicksal informiert. Seine Asche wurde einige Wochen nach seiner Ermordung an seine Frau geschickt.
Der Fall wurde vor Gericht gebracht, nachdem Polen 2021 einen europäischen Haftbefehl gegen Naumann erlassen hatte.
Dem Prozess wird in Deutschland eine besondere historische Bedeutung beigemessen, ähnlich den Prozessen gegen überlebende Holocaust-Täter.
Martin Manfred N. beteuerte stets seine Unschuld. Sein Anwalt erklärte, es gebe keine Beweise dafür, dass er den Mord begangen habe.
Ostdeutschland entstand aus den Teilen Deutschlands, die nach der Niederlage Nazideutschlands 1945 von der Sowjetunion besetzt wurden. Es war eine kommunistische Diktatur, während Westdeutschland – entstanden aus den amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszonen – ein kapitalistischer, demokratischer Staat war.
Im Jahr 1990 erfolgte die Wiedervereinigung beider Länder zum modernen Deutschland.